Bessere Medizin dank Big Data

Mit Nerve Live nutzt Novartis das Potenzial gesammelter Daten zum Wohl von Patienten

14. August 2018

Heutzutage liegt die Stärke der Datenanalyse darin, strategische Entscheidungen und Geschäftspraktiken branchenübergreifend mit gewonnenen Informationen zu unterstützen. Fussballclubs setzen darauf, wenn sie neue Talente mit besonderen Fähigkeiten suchen, oder auch Formel-1-Teams, die jede Radbewegung analysieren, um die über Sieg und Niederlage entscheidenden Millisekunden herauszuholen. Das Potenzial von Big Data und modernen Analysemethoden, die auf enormen Fortschritten in der Informationstechnologie der letzten zehn Jahre beruhen, verändert heute fast alle Branchen und lässt neue entstehen. Selbstfahrende Autos, der Google Assistent und selbst der Online-Einzelhandel von Amazon wären ohne leistungsstarke digitale Verfahren wie maschinelles Lernen und Cognitive Computing undenkbar.

Vor diesem Hintergrund erwarten viele Experten den Anbruch der vierten industriellen Revolution, die sich auf alle Bereiche unserer Gesellschaft auswirken wird. Die sogenannte Industrie 4.0 wird begleitet von der Hoffnung – aber auch von Befürchtungen –, dass das Sammeln und Auswerten grosser Datenmengen neues und unerwartetes Wissen hervorbringen wird, das bislang nur schwer oder überhaupt nicht generiert werden konnte.

Ein Quantensprung im Denken

Auch Novartis beteiligt sich an diesem Wettlauf. «Wir erleben derzeit eine Revolution in der Datenverarbeitung, deren Chancen wir nutzen sollten», so Dr. Luca Finelli, der bei Novartis den Bereich Predictive Analytics & Design leitet. Sein Team arbeitet an der Plattform Nerve Live, die die neuesten Fortschritte in der Computertechnologie nutzt und Novartis dabei helfen soll, das Potenzial ihres riesigen Datenpools zu nutzen. «Eigentlich sind wir ein Datenunternehmen», erklärt Dr. Finelli. «Für uns ist es nichts Neues, riesige Datenmengen zu generieren, zu verarbeiten, zu analysieren und ausgehend von diesem Wissen neue Therapien zu entwickeln. Indem wir aber alle Daten an einem Ort zusammenführen, können wir mit modernsten IT-Techniken neue Erkenntnisse gewinnen, die aus den Datensilos der Vergangenheit nur schwer herauszuholen waren.»

In den letzten Jahren verzeichnete die digitale Medizin ein enormes Wachstum. So ist die Menge an branchenweit gesammelten Daten in den letzten Jahren stark gestiegen – jährlich um etwa 50 Prozent –, und angesichts immer höherer und günstigerer Rechenleistungen wird sich dieser Anstieg auch künftig fortsetzen. Als Beispiel kann hier die Genomsequenzierung dienen: Während die Sequenzierung eines menschlichen Genoms 2007 noch etwa 10 Monate dauerte und 10 Millionen US-Dollar kostete, sind heute für das gleiche Verfahren nur noch 24 Stunden und 1000 US-Dollar oder weniger nötig. Die Idee, dass digitale Technologien allgegenwärtig werden und künftig wichtige Treiber im Gesundheitswesen darstellen werden, hat sich in der GDD von Novartis etabliert. «Es war kein leichter Weg», erinnert sich Dr. Finelli. «Unser Team musste überdenken, wie wir unsere Daten zusammenführen, analysieren und nutzen.»

Aufbau einer grossen Datenplattform

Zunächst musste das Team einen sogenannten Datenpool einrichten, um wichtige operative Daten in einem einzigen System zu vereinen, das mittlerweile in einer von Novartis verwalteten Cloud gespeichert ist. Bereits dieser erste Schritt erwies sich als komplex, da es sich um eine für Novartis völlig neue Datenarchitektur handelte. Anschliessend mussten die Daten übernommen und zusammengeführt werden, da sie bis dahin getrennt gespeichert worden waren, Inkonsistenzen aufwiesen und teilweise schwer zugänglich waren.

Die auf einem Tablett angezeigte Schnittstelle des One Nerve Live Predictive Module.
Über die zentrale Sense Oberfläche von Nerve Live werden Benutzer in Echtzeit Zugriff auf prognostizierte Informationen über Klinische Studien erhalten.

In einem zweiten Schritt entwickelte das Team ein modernes Analysesystem, um die Daten zu verarbeiten und daraus neue Erkenntnisse gewinnen zu können. «Das System ist sozusagen das Gehirn von Nerve Live», sagt Dr. Finelli. «Damit können wir jetzt die neuesten Algorithmen aus den Bereichen maschinelles Lernen und Cognitive Computing anwenden, die für unser Unternehmen einen Mehrwert schaffen und unsere Daten zum Leben erwecken.» Kurz gesagt: Diese neuen Algorithmen nutzen vergangene und aktuelle Daten zur Erstellung von Performance-Prognosen, mit denen Anwender Korrekturmassnahmen ergreifen und fundiertere und schnellere Entscheidungen treffen können.
 
Im dritten Schritt wurden Benutzermodule erstellt, die die Analyseergebnisse einschliesslich der kontextbezogenen Daten für die Teams verständlich machen und Mehrwehrt für geschäftliche Entscheidungsprozesse generieren sollen. Bisher wurden fünf Module generiert, und das Team arbeitet bereits an der nächsten Welle. Der Trial FootPrint Optimizer etwa hilft  Entwicklungsteams unter anderem bei der Planung und Simulation von Szenarien für klinische Studien. So können in Zukunft beispielsweise die besten Zentren ausgewählt, die Patientenrekrutierung verfolgt und vorhergesagt werden. Ein weiteres Modul dient als "Kontrollturm" für klinische Studien, genannt Sense. Sense ist derart konzipiert, dass es von einem zentralen Raum aus bedient werden kann, der mit grossen Bildschirmen und eigenen Arbeitsplätzen ausgestattet ist. Diese Plattform wird das sich entwickelnde Portfolio klinischer Studien in Echtzeit unterstützen, indem sie Studienrisiken und deren Treiber voraussagt, um vorbeugende Anpassungen und Verbesserungen zu ermöglichen. Sense bietet zudem einen Rahmen für Zusammenarbeit, und ermöglicht mithilfe von Daten transparente Gespräche zwischen Teams auf der ganzen Welt, die klinische Studien von Novartis durchführen.

Zukünftige Entwicklungen von Nerve Live könnten dazu beitragen, Ressourcen besser zu managen und die Versorgung der medizinischen Zentren mit Medikamenten von Novartis zu planen. Mit dieser wachsenden Sammlung an integrierten Modulen schafft Finellis Team ein zusammenhängendes Ökosystem, mit dem das Unternehmen effizient entlang der gesamten Wertschöpfungskette Potenziale aufspüren kann.

Die Daten sprechen lassen

Neben der Anwenderfreundlichkeit und dem erwarteten Produktivitätszuwachs sieht Dr. Finelli vor allem in der Transparenz durch Big-Data-Analysen und insbesondere Nerve Live einen wesentlichen Treiber für Veränderungen in den nächsten Jahren. «Um uns vom Datenunternehmen, das wir schon lange sind, hin zur datengetriebenen Organisation zu entwickeln, braucht es einen kulturellen Wandel», so Dr. Finelli. «Künftig kommt es darauf an, dass wir die Hinweise verstehen, die die Daten uns geben. Wir müssen uns von einer Wissenskultur hin zu einer Lernkultur bewegen.»

Die Daten sind zwar für alle transparent sichtbar, doch erst leistungsstarke Technologien wie das maschinelle Lernen und Cognitive Computing, die ohne zusätzliche Programmierung selbstständig Aufgaben erlernen, können Informationen extrahieren, die bislang verborgen blieben. In vielerlei Hinsicht wird der kulturelle Wandel ähnlich dem im Baseball sein, wo sich Scouts in der Vergangenheit bei der Auswahl neuer Spieler auf ihr Bauchgefühl verliessen, statt, wie heute üblich, auf detaillierte Analysen der Spielerdaten zu setzen.

Übertragen auf klinische Studien, würden die Teams ihre Spitäler beispielsweise nicht nach subjektivem Ermessen oder nach der geografischen Entfernung auswählen. Stattdessen können sie mit dem Trial FootPrint Optimizer analysieren, welches Zentrum die Kriterien für die Durchführung einer Studie erfüllt. «Bis dies vollumfänglich verstanden und umgesetzt wird, braucht es natürlich Zeit», sagt Finelli. «Aber angesichts der erheblichen Produktivitätspotenziale, die uns diese datengetriebene Transformation bietet, werden sich unsere Teams schnell anpassen.»