Wie lösen wir das Rätsel der Immuntherapie?

Von einer exzentrischen Idee zu einer Revolution in der Medizin - die Geschichte der Immuntherapie und ein Blick in ihre Zukunft.

06. Januar 2022

Von Kevin Jiang

An einem Frühlingstag im Jahr 1891 füllte ein junger New Yorker Arzt namens William Coley eine Spritze mit bösartigen, potenziell tödlichen Bakterien. Diese injizierte er in einen inoperablen Tumor im Hals eines Patienten. Coley wiederholte diese Prozedur über mehrere Monate, bis der Patient eines Tages von hohem Fieber gepackt wurde. Bald darauf begann der Tumor zu schrumpfen, bis er nach ein paar Wochen gänzlich verschwunden war. Fast ein ganzes Jahrzehnt lang gab es keine Anzeichen für eine Rückkehr des Tumors.

Heute, mehr als ein Jahrhundert später, gilt Coley als der erste, der systematisch die Idee erprobte, Krebs durch die Nutzung des eigenen Immunsystems des Patienten zu behandeln - ein Ansatz, der als Immuno-Onkologie oder Krebs-Immuntherapie bekannt ist. Dieses Konzept gehört zu den vielversprechendsten in der Medizin, da es das Potenzial birgt, bis dato als unbehandelbar geltende Tumore dauerhaft zu kontrollieren.

Eine damit zusammenhängende Herausforderung, die schon Coley zu schaffen machte, ist jedoch nach wie vor gross: Nur einige Krebsarten – in der Regel solche, die solide Tumore bilden – sprechen auf die derzeitigen Immuntherapien an. Für Patienten mit anderen Krebsarten, wie z. B. Blutkrebs, sind die Möglichkeiten der Immuntherapie nach wie vor äusserst begrenzt.

Dies ist ein Rätsel, das Stück für Stück mühsam gelöst werden muss. Doch mit jeder neuen Erkenntnis kommen Forscher auf der ganzen Welt, auch bei Novartis, der Erschliessung des Potenzials von Immuntherapien für mehr Patienten und mehr Krebsarten einen Schritt näher.

William Coley im Jahr 1892. Coley gilt heute als der "Vater der Immuntherapie". Foto: Unbekannter Fotograf, Fotografie öffentlich verfügbar über Wikimedia Commons.

Unsere beste Verteidigung gegen Krebs

Coley testete über mehrere Jahrzehnte hinweg verschiedene Varianten seines bakteriellen Ansatzes. Trotz seiner Bemühungen war es ihm unmöglich vorherzusagen, wer darauf ansprechen würde – geschweige denn zu erklären, warum. Seine Methoden gerieten in Verruf, bis die moderne Ära der Biomedizin anbrach.

 «Heute wissen wir, dass unser Immunsystem unsere beste Verteidigung gegen Krebs ist. Bei allen Patienten, die an Krebs erkranken, versagt das Immunsystem auf irgendeiner Ebene», sagt der Hämatologe und Onkologe David Steensma, der bei Novartis die hämatologische Grundlagenforschung leitet. «Krebszellen gaukeln dem Immunsystem vor, dass sie Teil des Körpers, also gesunde Zellen sind, und nicht eliminiert werden müssen.»
Grundsätzlich ist das Immunsystem dafür verantwortlich, zu erkennen, was in den Körper gehört und was nicht. Letzteres wird vom Immunsystem eliminiert. Dazu müssen die Immunzellen entscheiden, ob sie gegen eine potenzielle Bedrohung aktiv werden oder sich zurückziehen sollen.

Um Immuntherapien zu entwickeln, die mehr Patienten helfen können, müssen wir die Wechselwirkungen zwischen Krebs und den verschiedenen Komponenten des Immunsystems besser verstehen.

In den frühen 1990er Jahren identifizierten Forscher ein Protein, das eine massgebliche Rolle in diesem Entscheidungsprozess spielt, und als molekulare Bremse des Immunsystems wirkt. Ohne dieses Protein unsere Immunzellen sogar gesundes Gewebe angreifen. 

Der Immunologe James Allison, der 2018 den Nobelpreis erhielt, stellte eine entscheidende Frage: Könnte diese Entdeckung gegen Krebs nützlich sein? Seine Bemühungen sowie die seines Nobelpreisträger-Kollegen Tasuku Honjo und vieler weiterer Wissenschaftler auf der ganzen Welt haben die Onkologie revolutioniert.

Eine Revolution in der Onkologie

Sie zeigten, dass Krebs tatsächlich Proteine, die die Immunantwort ausschalten können (sogenannte Checkpoints), korrumpieren kann, um Immunzellen auszutricksen, damit sie sich zurückhalten. Noch wichtiger ist, dass die Blockierung dieser Proteine mit Medikamenten – also das metaphorische Lösen der Bremsen – es den Immunzellen ermöglicht, den Tumor anzugreifen; dies oft mit bemerkenswerter Wirksamkeit.

Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse entstanden neue Immuntherapien, die heute zu den grundlegenden Instrumenten im Kampf gegen Krebs gehören. Coleys Vision begann sich zu verwirklichen. 
Die derzeitigen Immuntherapien wirken jedoch nur bei einer Untergruppe von Krebsarten und einer Untergruppe von Patienten. Für die Wissenschaftler von Novartis und auf der ganzen Welt besteht eine der wichtigsten Aufgaben in der Medizin heute darin, die Zahl der Menschen zu erhöhen, die von Immuntherapien profitieren können.

Eine der wichtigsten Erkenntnisse in diesem Zusammenhang ist, dass das Immunsystem über zahlreiche molekulare Kontrollmechanismen verfügt, die bestimmen, wann es sich mobilisiert oder zurückzieht – und dass diese Mechanismen von Krebszellen ausgenutzt werden können, um das Immunsystem zu umgehen. 

Die Aufdeckung dieser unzähligen Tricks hat für die Forscher Priorität, um geeignete Gegenstrategien entwickeln zu können.

 

Weisse Blutkörperchen umgeben eine Krebszelle
Weisse Blutkörperchen umgeben eine Krebszelle (Mitte). Foto: Alex Ritter, Jennifer Lippincott Schwartz und Gillian Griffiths, National Institutes of Health

Aktivieren des Immunsystems

Bei einigen Blutkrebsarten fanden die Forscher heraus, dass das Immunsystem durch die Erkrankung in einen anormalen Schlummer versetzt zu werden scheint. Interessanterweise exprimieren bestimmte Immunzellen, die sogenannten myeloischen Zellen, grosse Mengen eines Proteins, das den angesprochenen Checkpoints ähnelt und mit einer gestörten Immunaktivität bei diesen Krankheiten in Verbindung gebracht wurde – ein erneuter Hinweis auf den Trick, der hier durch den Krebs angewendet wird.

Genauso wie die Freisetzung molekularer Bremsen Immunzellen bei anderen Krebsarten aktivieren kann, fragen sich die Wissenschaftler von Novartis, ob diese checkpoint-ähnlichen Proteine bei diesen Krankheiten eine besondere Rolle spielen – und ob ihre Blockierung dazu beitragen kann, das Immunsystem zu reaktivieren.
Ähnliche Anstrengungen werden unternommen, um das Verhalten anderer Checkpoints und Proteine zu untersuchen, die Krebsarten nutzen, um das Immunsystem zu umgehen. 

Da viele Krebsarten bestimmte Tricks anwenden, andere jedoch nicht, könnte diese Arbeit es den Wissenschaftlern ermöglichen, das Immunsystem auf neue Weise zu aktivieren, insbesondere bei Krankheiten, für die es derzeit nur begrenzte Möglichkeiten der Immuntherapie gibt, wie etwa bei Blutkrebs.

«Um Immuntherapien zu entwickeln, die mehr Patienten helfen können, müssen wir die Wechselwirkungen zwischen Krebs und den verschiedenen Komponenten des Immunsystems besser verstehen», sagt Renaud Capdeville, globaler Programmleiter für Hämatologie bei Novartis. «Diese Erkenntnisse sind entscheidend, wenn wir dieses Rätsel erfolgreich lösen wollen».

Bei Novartis und andernorts erforschen Wissenschaftler auch neue Möglichkeiten, Immuntherapien mit anderen Krebstherapien zu kombinieren. Parallel dazu untersuchen sie viele andere Strategien zur Entfesselung des Immunsystems. Mit jeder neuen Entdeckung erschliessen sie potenzielle neue Ansätze, die mehr Patienten helfen könnten.

Vor mehr als einem Jahrhundert hielten die meisten die Idee der Immuntherapie bestenfalls für exzentrisch. Doch heute kommen wir der Lösung des Rätsels, an dem Coley 1891 zu arbeiten begann, immer näher.